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Nicole Rensmann: "Du bist das Beste!"

Das News-Aufkommen aus dem Bereich der Phantastik (egal ob in Sachen Literatur, Film & Serien, Comic etc.) wird in nächster Zeit vermutlich rückläufig sein. Rezensionen werden wir natürlich weiterhin online stellen. Bis auf Weiteres möchten wir unser Angebot aber um Kurzgeschichten erweitern. Wir bedanken uns bei den Autorinnen und Autoren, die uns hierbei unterstützen.

Heute: „Du bist das Beste!“ von Nicole Rensmann


DU BIST DAS BESTE!

von Nicole Rensmann

 

„Du sollst nicht draußen im Regen spielen. Das verträgst du nicht. Komm bitte ins Haus.“
Nellie genoss das Gefühl, wenn Regentropfen wie Tränen an ihren Wangen hinunterliefen und liebte es, das Trommeln des Regens auf ihrem Kopf zu spüren. Im Garten Löcher graben, dem Straßenhund den Ball zurollen und den Puppen eine erfundene Geschichte aufdrängen, all das gehörte zu ihren Lieblingsspielen. Meist warf Nellie ihre Puppen dabei theatralisch auf den Boden – Heulkrampf. Manchmal durften sie lieb zueinander sein oder ein Matschbad nehmen. Wunderbar. Diese kindlichen Spielereien krönte Nellie damit, sich Mutters Aufforderungen zu widersetzen. Denn sie hasste ihre Mutter.
Darum folgte sie auch diesmal nicht, sondern blieb auf dem vom Regen aufgeweichten Boden sitzen, zog ein künstliches Miniflussbett mit Zeige- und Mittelfinger und tauchte alle neun Finger nacheinander in das nachrinnende Wasser. Nicht zum Spaß. Mutter würde sich darüber aufregen. Und das freute Nellie.
„Komm jetzt bitte rein!“ Mutter eilte nach draußen, zu lange hatte sie sich das Spielchen ihrer Tochter angesehen. Sie warf ein Badetuch, von der Größe her für einen Elefanten tauglich, über Nellies Kopf und Körper, schirmte Nässe und Kälte von ihr ab, wickelte sie fest ein und drückte Nellie an sich. „Warum machst du das? Ich bin doch nur besorgt um dich.“
Nellie antwortete nicht. Sie redete nie. Fremden gegenüber erklärte Mutter, Nellie sei schüchtern. Den Nachbarinnen flüsterte sie zu, das Kind sei zickig und mache eine schwere Pubertät durch. Sie sagte das mit diesem Lächeln, das alles zu entschuldigen versuchte. Ihr war Nellie peinlich.
„Trink den Kakao, solange er noch heiß ist!“
Mutter hatte ihr geholfen, die nasse Kleidung auszuziehen, sie mit dem Handtuch trocken gerubbelt und in einen Bademantel gehüllt. Jetzt saß Nellie am Küchentisch. Es widerstrebte ihr zu trinken. Ihre Hände zitterten.
„Nun trink, er schmeckt köstlich.“
Mutter nahm die Tasse und trank einen Schluck. „Siehst du, alles gut. Nicht zu heiß, genau richtig. Trink! Ich koche uns jetzt was Leckeres. Du wirst schon sehen, ich achte darauf, dass du mir nicht krank wirst, mein Schatz.“
Wenn Nellies Mutter kochte, roch anschließend das gesamte Haus danach. Sie briet Knoblauch und Zwiebeln in viel Fett an. Immer. Jedes Nahrungsmittel erhielt die Ehre in diesem speziellen Nellies-Mutter-Sud zu garen. Nudeln kochte sie erst in ungesalzenem Wasser und schwenkte sie dann in einer Fett-Knoblauch-Zwiebel-Sauce. Das habe ihr die Oma beigebracht, erzählte sie gern – gut gegen Erkältung. Nellie kannte die Oma nicht, die Mutter kochen, nähen, bügeln und andere Tätigkeiten beigebracht haben sollte. Und der Opa, der vor Jahren gestorben war - Nellie erinnerte sich nicht an ihn - habe Mutter gezeigt, wie ein Kessel repariert oder der Anlasser am Wagen ausgetauscht werden musste. Mutter fand sich selbst patent. Nellie fand sie ätzend.
Sie trank den Kakao. Er schmeckte nicht.
Kurze Zeit später aß sie mit Mutter zu Abend. Sie wusste nicht, was auf dem Teller schwamm. Das Schlucken mehr ein Würgen. Während Mutter von ihrem Tag erzählte, dachte Nellie darüber nach, ob ihr Vater sie eines Tages abholen und von diesem schrecklichen Ort fortbringen würde. Nellie hatte noch nie einen Mann gesehen, nur den alten Heinrich, der mit seiner Kehrmaschine die Straßen der Stadt, vielleicht der Welt, fegte. Sie wollte ihn fragen, ob er sie mitnehmen könnte, weg von ihrer Mutter. Wenn sie noch länger blieb, würde sie sterben.
Mutter gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Gute Nacht, mein Schatz. Schlaf schön und vergiss nicht, dir die Zähne zu putzen.“
Als Nellie sich Zahnpasta auf die Zahnbürste drückte, kam Mutter ins Bad. „Weißt du, Schatz - es ist ja morgen Wochenende und ich dachte, wir könnten heute Abend einen Film ansehen. Hast du Lust?“
Nellie schüttelte den Kopf.
„Ach komm schon, das wird lustig. Oder gruselig? Wir können uns einen Horrorfilm anschauen.“
Nellie presste die Lippen fest zusammen.
„Dann weiß ich etwas. Wir schauen uns alte Filme an. Von der Familie.“
Nellie erstarrte.
„Da staunst du. Es gibt viele Filme, und es wird Zeit, dass du deinen Vater kennenlernst. Ich weiß sehr wohl, dass du ständig darüber nachdenkst. Ich war auch mal so jung wie du.“ Mutter verließ das Bad.
Mit geschlossenen Augen lehnte Nellie sich gegen die Wand. Sie hasste es, Filme mit ihrer Mutter zu schauen. 
In ihrem Zimmer drückte sie die Tür leise ins Schloss. Vielleicht vergaß Mutter, dass sie mit ihr Filme anschauen wollte.
Der Bademantel fiel zu Boden, ihr nackter Körper spiegelte sich in der Fensterscheibe. Einen Spiegel besaß sie nicht. Mutter meinte, sie benötigte keinen. Schönheit läge im Auge des Betrachters.
Die Zimmertür öffnete sich. Mutter vergaß nie. Sie hatte das Gedächtnis eines Elefanten, behauptete sie und Nellie ahnte, dass diese Äußerung der Wahrheit entsprach.
„Komm vom Fenster weg. Du weißt doch nicht, wer hier alles reinschaut. Ich creme dir noch den Rücken ein.“
Nellie wollte nicht, ließ es jedoch über sich ergehen.
„Deine Narben sind fast verheilt, nun hast du eine Haut, zart wie ein Babypopo. Ich wünschte, ich hätte auch so eine Haut. – So. – Fertig!“ Sie gab ihr einen Klaps auf den Po. Nellie zuckte zusammen.
„Zieh dir was an. Ich warte unten auf dich. Ich habe Popcorn gemacht.“
In Zwiebel-Knoblauch-Fett.
Nellie hatte keine Wahl. Sie zog sich einen Schlafanzug an – mit Katzenbabys-Aufdruck - und folgte. Popcorn, Cola und ein bisschen Kerzenschein. Die von Mutter verbreitete Gemütlichkeit machte Nellie Angst. Sie schielte zur Haustür. Wegrennen? Eines Tages. Die Küche war nicht weit, Messer zahlreich vorhanden. Nellie hasste ihre Mutter sehr.
„Setz dich. Ich habe dir ein paar Kissen hingelegt, damit dein Rücken geschont wird.“
Mutter klopfte auf den Sofaplatz neben sich. „Es geht gleich los. Cola? Sicher möchtest du Cola.“
Der Film begann wie ein Super-8-Film, schwarz-weiß und mit Zahlen, die runterzählten. Nellie hatte darüber im Netz gelesen. Filme von damals. Mutter durfte nicht erfahren, dass Nellie ohne Erlaubnis online ging.
Lachende Menschen tänzelten einen Weg entlang, farblos, stumm. Wie Pantomime. Nellie kannte sie nicht.
„Sieh, dort!“, Mutter zeigte auf eine Frau in der Mitte der Gruppe. „Das ist deine Urgroßmutter. Ist sie nicht hübsch? Sie hatte eine wunderbare Stimme. Opernsängerin. Sehr bekannt und erfolgreich. Leider war sie die einzige in unserer Familie, die diese Gabe besaß.“
Sie strich Nellie über die Wange und zeigte dann auf einen Mann. „Und das ist Uronkel Herbert. Politiker. Und ein verlogener, versoffener Dreckskerl. Den buddelt keiner mehr aus.“ Sie lachte und trank einen Schluck Wein. „Der Mann neben ihm ist sein Bruder, ein Pianist mit den filigransten Händen, die ich finden konnte.“
Der Film wurde bunt, die Jahre zogen vorüber und zu jeder Person, die auf einer Bank saß, vorbeiging oder in die Kamera grinste, wusste Mutter eine Anekdote zu erzählen. Keine spannenden, nur Superlative: schnellster Läufer, geschwungenste Lippen, rundester Po …
„Deine Oma. Hat sie nicht traumhaft schöne aquamarinblaue Augen? Und dort - siehst du diese Frau? Das ist ihre Schwester. Ihr goldfarbenes Haar fühlte sich wie Seide an. Sie starb auf dem Kindsbett. Tragische Geschichte. Aber sie lebt in dir weiter.“
Nellies Herz klopfte schneller.
„2024. Das Jahr, in dem du geboren wurdest“, kommentierte Mutter die nächsten Bilder. „Ich habe sie alle zusammengeschnitten, alle Filme, die ich von unserer Familie aufbewahrt hatte. Und digitalisiert.“ Mutter seufzte und erhob ihr Glas: „Ich bin patent. Prost!“
Die zu weichen Sofakissen hielten Nellie gefangen. Sie hörte Mutter kaum zu, hoffte nur ihren Vater zu sehen.
„Du wunderst dich sicher, warum von 2019 bis 2024 keine Filme existieren. Eine schwere Zeit für deine Mutter. Ich hatte keine Kraft unsere Familie zu dokumentieren, und sonst waren alle zu alt dazu. Doch dann kamst du.“
Wieder trank sie einen Schluck Wein. Sie trank nicht oft.
Die Cola rührte Nellie nicht an, und sie naschte auch nicht von dem fetttriefenden Popcorn.
„Und das ist dein Vater.“ Mutter drückte die Fernbedienung und spulte vor.
Der Bildschirm blieb schwarz.
„Du hast keinen.“ Mutter lachte erst, dann weinte sie. Nur kurz. „Du bist in einem Reagenzglas entstanden, so wie alle Kinder hier in der Straße, im Ort, in der Welt. - Nein. Das weiß ich nicht, ich war noch nicht in der Welt. Ich komme hier ja nicht weg.“
Sie puffte Nellie in die Seite. Schmerzhaft. Nellie schwieg.
„Deinetwegen.“
Nellie weinte nicht.
„Du bist das Beste, das ich je geschaffen habe,“ sagte Mutter, „weißt du das eigentlich?“ Sie lächelte und strich Nellie über die Stirn. „Naja, nicht das Beste, aber doch fast“, lenkte sie ein.
„Hier und da habe ich Verbesserungsvorschläge. Vieles wäre anders verlaufen, wenn ich absolutes Mitspracherecht gehabt hätte, aber das hat eine Mutter nicht. Es kommt wie es kommt, nicht wahr?“ Dann küsste sie Nellie auf die glatte Wange. „Aber wir arbeiten daran.“
Der Film lief weiter, während ihre Mutter redete. Nellie hörte zu, wollte verstehen, begriff aber nicht.
„Dr. Frankner. Er hat dich geschaffen.“ Sie füllte sich das Glas neu.
„Wir haben es vorher sechs Mal versucht, doch deine Geschwister starben noch in meinem Bauch.“
Sie strich sich über ihre kleine Wölbung, als wachse darin erneut ein Kind heran. Nellie erschauderte.
„Familie ist wichtig, und du bist das Beste aus unserer Familie, die besten Gene der schönsten Frau und des stärksten Mannes. Leider hatten auch diese beiden ihre Fehler. Tante Sybille besaß eine fürchterliche Stimme, und Opa Berny viel zu dünnes Haar. Wäre es nach mir gegangen, hätte ich die Eizelle deiner Oma mit dem Samen deines Uropas gepaart. Aber diese Zusammenführung funktionierte nicht. Fehlgeburt im fünften Monat.“
Tränen – zwei, drei – wie künstlich aufgeklebt, hafteten auf Mutters Wangen.
„Du fragst dich, warum ich das gemacht habe? Ahnenforschung. Familie ist das Beste, was dir passieren kann. Wer möchte schon fremde Gene austragen? Ich wollte das nicht. Die Frauen hier in der Straße haben alle keinen Mann, weil sie keinen benötigen. Aber sie sind nicht so patent wie deine Mutter, Nellie-Schatz.“
Lallende Worte aus Mutters Mund.
„Sie mussten sich mit dem zufriedengeben, was sie letztendlich gebaren. Ich nicht. Ich habe vor- und nachgesorgt.“
Unfähig, die Augen vor der nahenden Katastrophe zu schließen, starrte Nellie auf den Bildschirm. Sie verstand zu viel und doch zu wenig von dem, was Mutter erzählte.
Dr. Frankner tätschelte den rosigen Popo eines Neugeborenen. Das Gesicht rot vom Schreien, die Fäuste geballt. Es brauchte eine Mama. Der Arzt gab das Baby der Frau, die es unter Schmerzen zur Welt gebracht hatte - der Frau, die Nellie hasste. Ihre Mutter. Sie herzte es – Nellie -, dann gab sie es Dr. Frankner und schüttelte den Kopf.
„Trink deine Cola!“
Wie Saugnäpfe hielten die Sofakissen an Nellie fest, sie kämpfte sich frei, wich vor Mutter zurück.
Bilder im Kopf. Ein Blitzgewitter. Zu schnell, zu viele, nicht greifbar. Trink deine Cola. Filmriss.
Mutter trank jetzt aus der Weinflasche.
„Ich wollte dich, aber du warst nicht so, wie ich mir das vorgestellt hatte. Ich habe dir nie wehgetan, nie absichtlich, doch du solltest das Beste werden, das ich je im Leben erschaffen habe. Das perfekte Ahnenabbild unserer Familie. Dafür mussten wir Opfer bringen. Das verstehst du sicher?“ Sie ging auf Nellie zu und streckte einen Arm nach ihr aus. „Dein Schreien störte mich.“
Nellie rannte durchs Zimmer, stoppte vor der Hintertür. Die Hand auf dem Knauf, drehte sie sich noch einmal um. Kein Muttergesicht, nur eine Fratze hinter ihr.
„Sobald wir fertig sind, kannst du in die Schule gehen, mit den anderen Kindern, das hast du dir doch immer gewünscht. Du wirst eine wunderschöne Stimme bekommen und traumhaftes Haar. Du wirst das Beste vom Besten.“
Einen stummen Schrei auf den geöffneten Lippen, hielt Nellie ihre Hände hoch. Neun Finger, ein Stumpf.
„Ich weiß. Das war ein Missgeschick. Erinnerst du dich daran?“ Entsetzen in Mutters Augen.
Nellie nickte, schüttelte den Kopf, nickte.
„Ich mach es wieder gut. Aber du musst deine Cola trinken.“

Nellie riss die Hintertür auf und stürzte hinaus. Wo sollte sie hin? Kontakt zu anderen Kindern hatte Mutter verboten. Unterricht fand virtuell statt, weil sie zu oft krank war. Nach diesem Abend glaubte Nellie zu verstehen, wo die Schmerzen herrührten und warum sie sich fühlte, als gehöre sie nicht in diesen Körper.
Du bist das Beste, das ich je geschaffen habe. Mutter war schuld!

Sie rannte über die Wiese zur Nachbarin, klopfte mit den Fäusten an die Fensterscheibe. Im Inneren des Hauses schaltete jemand das Licht ein. Die Nachbarin erkannte Nellie. Hilfe! Ein Mädchen tauchte hinter der Frau auf. Ein Mädchen, so alt wie Nellie. Sie winkte und sagte etwas zu ihrer Mutter, doch die schüttelte den Kopf. Ihre Lippen formten sich zu einem Sorry. Die Gardinen wurden vorgezogen. Nellie blieb allein. Ihr Herz klopfte zu schnell. Ihr eigenes Herz oder das eines Vorfahren?
Mutter stand nur wenige Meter entfernt, die Flasche Wein in der Hand. Sie machte einen Schritt auf Nellie zu, stolperte, stürzte auf die Wiese, die Flasche rollte weg. Sie schrie: „Hier hilft dir keine von den verdammten Tussen.“ Es klang wie Iahr häfft de kanna von da verdatten Tuschen.
„Die sind nicht patent und halten mich alle für verrückt. Neidisch sind sie. Das gesamte Pack.“ - … asch lejamte Back.
Nellies Mund war zu einem Schrei aufgerissen, kein Ton kam über ihre Lippen. Sie rannte über die Wiese, den Weg und die dunkle Straße entlang, geradeaus weiter, bis ein beleuchtetes Straßenschild sie darauf hinwies, das Ende des Ortes Nevus Valley sei erreicht und die Bewohner von Homeland hießen sie herzlich willkommen!
Ein letztes Mal blickte Nellie zurück. Die Straße, leer.
Dem Straßenrand folgend, näherte sie sich der von der Nacht übermalten Stadt. Lichter. Gelbe Sprenkel auf Nachtblau wiesen ihr den Weg. Viele Stunden lang.
Schwere Beine, müde Lider. Schritt für Schritt mit Blei an den Füßen spürte sie nur noch, wie sie fiel. Dann waren die Sprenkel fort und die Nacht in ihr.

„Halt an! Halt an! Da liegt ein Kind. Um Gottes Willen! Hoffentlich lebt es noch.“ Mia öffnete die Beifahrertür, noch bevor Bill den Wagen vollständig zum Stehen brachte. Sie waren auf dem Weg nach Hause. Mias Schwester Anne hatte geheiratet. Die Kinder schliefen bei Freunden. Mia rannte die paar Meter zurück und kniete sich zu dem Kind hinunter. Der Saum ihres Kleides leckte am Morast. Sie drehte das Kind zu sich. Das Mädchen öffnete die Augen – hellgrün, ungewöhnlich schön. Als Bill dazu kam, lächelte sie und sank in einen ohnmächtigen Schlaf.
„Ihr Haar ist sehr dünn, die Haut so blass.“ Mia strich ihr die Haare aus dem Gesicht und legte ihre Hände auf den Bauch. „Ihr fehlt ein Finger. Das arme Ding.“ Sie hob das Mädchen hoch, doch Bill nahm sie ihr ab.
„Wir bringen sie in ein Krankenhaus.“ 
Vorsichtig bettete er sie auf den Rücksitz und wärmte den schlaffen Körper mit seinem Mantel. Zehn Minuten später trugen sie das bewusstlose Kind in die Notaufnahme. „Wir kümmern uns“, sagte die Krankenschwester und ließ das Paar stehen.
Doch Mia wollte das Mädchen nicht alleine lassen, sie blieb in der Nacht im Krankenhaus, wachte an ihrem Bett und hielt ihre Hand. Die Ärzte schätzten ihr Alter auf zwölf und entdeckten zahlreiche Verletzungen. Ihre Stimmbänder seien in jungen Jahren durchtrennt und ein Finger unsachgemäß entfernt worden, doch mehr erfuhr Mia nicht. Denn sie war nicht die Mutter. Und diese meldete sich nicht. Keiner vermisste das Mädchen mit den einzigartig schönen Augen.
Während Mia in den ersten Stunden bei dem Mädchen verweilte, hatte sie Gespräche zwischen den Ärzten und den Krankenschwestern aufgeschnappt. Von Experimenten, Frauen-Dorf und Ahnen-Genen war die Rede. Sie verstand nur Bruchstücke, aber doch so viel, dass sie das Mädchen nicht mehr allein lassen durfte. Sie war in Gefahr.
An den, mit Hecken bepflanzten, Grenzen des besagten Dorfes waren Mia und Bill schon einige Mal vorbeigefahren. Ein Städtchen unter staatlichem Schutz stehend, nur von Frauen und deren Kindern bewohnt, hieß es. Einmischen verboten. Doch dafür war es nun zu spät.
Bill und Mia besuchten das namenlose Mädchen jeden Tag, brachten Spielzeug, Kuscheltiere und am ersten Wochenende ihre beiden Kinder mit. Obwohl das Mädchen nicht sprach, verstanden sich die drei auf Anhieb, sie kommunizierten mit Händen, Blicken und Kichern.
Nach zwei Wochen gaben sie ihr den Namen Marie.
Zum Dank malte Marie eine Sonne mit einem lachenden Gesicht. Doch Maries eigenes Lächeln strahlte mehr. Sie war ein schlaues Kind, das in geschwungener Handschrift seitenlange Geschichten schrieb. Zu ihrer Vergangenheit verlor sie kein Wort. Wenn Mia oder Bill sie danach fragten, schloss sie die Augen, verschränkte die Arme und stellte sich schlafend.
Bill und Mia beantragten die Pflegschaft. Bis die Erziehungsberechtigten gefunden wurden, sollte Marie bei ihnen leben. Marie nannte Mia, in stumm formulierten Worten und lebhaft geschriebenen, Mama. Bill wurde Papa. Die Liebe zu ihren neuen Geschwistern Norman und Nadine bezeugte sie mit ständigen Umarmungen. Insgeheim hofften alle – auch Marie, sie besonders – sie könne für immer bleiben.
Doch Bill und Mia ahnten, eines Tages würde Marie ihnen genommen werden. Darum zogen sie aus Homeland fort, in eine große Stadt, die ihnen ein kleines Quantum Anonymität schenkte. Nach einem Jahr stand der nächste Umzug an. Sie wollten nicht sesshaft werden, keine Spuren hinterlassen.
Wie ihre Geschwister, besuchte Marie die Schule. Ihr dünnes Haar ließ sie sich kurz schneiden und versteckte es unter einer bunten Mütze oder einem seidigen Tuch, das ihren samtigen Teint unterstrich. Sie erblühte zu einem Teenager und absolvierte problemlos anstehende Tests. Neider nannten sie Miss Nine, wegen ihrer neun Finger. Marie ignorierte das. Alles normal.

Der Tag, an dem Norman seinen neunzehnten Geburtstag feierte, drei Jahre nachdem sie Marie bei sich aufgenommen hatten, sollte die Normalität beenden.
Es klopfte an der Tür. Marie sprang auf und wollte die Besucher mit ihrem stummen, bezaubernden Lächeln willkommen heißen, doch der Anblick dieser ungeladenen Gäste wischte ihr Strahlen aus dem Gesicht. Sie strauchelte beim Rückwärtsgehen, stolperte über den Teppich im Flur und wäre gestürzt, wenn Bill sie nicht gehalten hätte.
„Nellie-Schatz. Endlich haben wir dich gefunden!“
Marie suchte Schutz in Papas Armen.
Hinter Mutter trat ein Mann ins Haus, gefolgt von zwei Polizisten. Einer der Beamten ging auf Maries Wahleltern zu. „Sie werden beschuldigt, fremdes Eigentum über mehrere Jahre beherbergt und vor der Öffentlichkeit verborgen zu haben.“
„Marie ist kein Eigentum, und sie ist in die Schule gegangen wie alle anderen Kinder auch. Sie ist eine gute Schülerin.“ Papa schob Marie hinter sich und ging auf den Beamten zu, doch der sah darin eine Drohgebärde, packte Papa am Handgelenk und verdrehte dessen Arm. Blitzschnell.
Mama schrie auf. „Nicht. Hören Sie auf damit. Wir lieben Marie. Sie ist unser Kind.“ Mama umarmte Marie, die ihr Gesicht fest in Mamas Schulter drückte.
Der Beamte lockerte den Griff. „Lassen Sie den Mann los“, befahl der Mann, der Nellies Mutter begleitete und sagte: „Ein Gentest verzögert die Übergabe nur. Sie wissen, dass dieses Mädchen nicht ihre Tochter ist.“
Marie blickte auf. Dr. Frankner stand direkt vor ihr.
„Wer hat ihr denn diese dünnen Haare vererbt?“, fragte Nellies Mutter und riss ihr das Tuch vom Kopf. „Wie hat sie den Finger verloren?“ Mutter packte Nellies Arm. „Nein? Darauf wissen Sie auch keine Antwort? Dachte ich mir.“ 
Marie erinnerte sich, sie hatte sich in den letzten Monaten an vieles erinnert, das sie lieber für ewig zu vergessen wünschte und ihrer Wahlfamilie niemals erzählen wollte.
Bitter schmeckende Cola, nach der sie tief schlief. Das böse Erwachen, ohne Erinnerung, mit dem Gefühl ein anderer Mensch zu sein.
Mutter wollte sie zu dem machen, was sie selbst nie sein konnte – das Beste aus der Familie. Aber das Beste war diese Familie. Mama, Papa und ihre Geschwister. Mutter war dumm.
Norman und die zwei Jahre jüngere Schwester Nadine stellten sich Hand in Hand vor Mama und Marie. „Marie bleibt bei uns.“
Der cholerische Polizist schlug Norman ins Gesicht. „Nicht!“, schrie Maries Mama. Der zweite Polizist zog seine Waffe und zielte auf die Geschwister.
Den Mund zu einem lautlosen Schrei geöffnet, stellte sich Marie zwischen die Pistolenmündung und ihre Familie. Sie schüttelte den Kopf und schlug die Waffe zur Seite. Dann ging sie zu Mutter. Das Gesicht voller Trauer. Tränenlos.
Sie besaß keine Tränenkanäle. Mutter hatte sie verödet. Salzige Tränen hätten die Haut nur unnötig aufgeweicht. 
Marie blickte noch einmal zurück, als sie mit ihrer leiblichen Mutter das Haus verließ. Die Frau, die sie als ihre Mama liebte und die sie ohne Kompromisse angenommen hatte, schickte ihr eine Kusshand. Wir holen dich, formten ihre Lippen.
Mutter zog Nellie fort, hielt sie an der Hand mit den vier Fingern fest. Die Fingerknöchel rieben schmerzhaft aneinander, die ihrer eigenen Finger, die Mutter ihr hatte nehmen wollen, um sie mit den Fingern eines Klavierspielers – des Onkels dritten Grades – zu tauschen. Aber manchmal war auch Mutter nicht patent genug.
Zwei Monate später.
Dr. Frankner schüttelte Mutter die Hand. „Wie vertraglich festgehalten, haben wir alles durchgeführt. Es war an manchen Bereichen kompliziert. Sie hätten die Zeiten einhalten und so lange warten müssen, bis sie bei uns ist.“
„Ich bin ausreichend patent.“
„Nicht in allen Belangen. Aber wir haben jetzt all das, was wir wollten.“
Mutter kämmte das seidige, goldfarbene Haar, das einst der Schwester ihrer Oma gehört hatte und blickte in deren aquamarinblaue Augen, die nun Nellies waren.
„Als hätte ich meine gesamte Familie bei mir, den perfekten Teil. Wunderschön.“ Mutter hielt die Hand auf. „Sie haben Ihr Studienobjekt.“
Dr. Frankner rückte seine Brille zurecht und überreichte Mutter einen dicken Umschlag. Ein Geldschein rutschte bei der Übergabe heraus. Mutter schob ihn wieder hinein.
„Und ich das Beste vom Besten meiner Familie.“
„Abgesehen von einer Sache.“
„Wie meinen Sie das?“
„Ihren Willen können wir nicht austauschen.“
Nellie öffnete den Mund – Lippen einer Urtante. Ihr Schrei hallte über die Krankenhausflure. Jeder auf der Etage und der Straße hielt inne und lauschte dem Sopran einer Opernsängerin, deren Stimme längst vergessen schien – Nellies Urgroßmutter. Die Welt um Nellie blieb für einen Moment nur für sie stehen.
„Maaaaaaaaamaaaaaaaaaaaaa!“

ENDE

 

„Du bist das Beste“ erschien zuerst in "EXODUS" Ausgabe 38. © 2020 Nicole Rensmann

Nicole Rensmann, Jahrgang 1970, veröffentlichte 1998 ihre erste Kurzgeschichte bei Bastei-Lübbe. Seitdem weist sie mehr als siebzig Publikationen für Erwachsene und Kinder vor - Romane und Kurzgeschichten in unterschiedlichen Genres. Als Journalistin führte sie für das Magazin „phantastisch”! von 2003 bis 2010 zahlreiche Interviews mit international und national bekannten Größen der Literaturszene. Für Print-Magazine und Online-Portale verfasste sie Rezensionen und Artikel. Mit ihrer Familie und zahlreichen Tieren lebt sie im Bergischen Land.